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06.12.2005 · 16:35 Uhr

Regelmäßig räumlich angeordnete Elemente charakterisieren eine Kristallstruktur. (Bild: Desy) Regelmäßig räumlich angeordnete Elemente charakterisieren eine Kristallstruktur. (Bild: Desy)

Kristalle aus Löchern

Kieler Physiker postulieren neue Materieform

Von Frank Grotelüschen

Physik. - Ein deutsch-russisches Forscherteam hat einen Kristall aus Löchern entdeckt. Diese Löcher entstehen, wenn Elektronen durch Energiezufuhr angeregt werden und auf eine höhere Schale springen. Die Forscher haben ihre Entdeckung in den "Physical Review Letters" veröffentlicht.

"Ein Kristall ist ein Gitter, das besteht aus Atomen oder Ionen. Das kennt jeder aus dem Bergkristall."

So steht es in jedem Lehrbuch, und so beschreibt es auch Michael Bonitz. Doch mit diesen gewöhnlichen Kristallen gibt sich der Physikprofessor der Universität Kiel nicht ab: Er ist einer Sache auf der Spur, die völlig absurd klingt - einem Kristall aus Löchern. Nun sind die Löcher, um die es hier geht, keine gewöhnlichen Löcher - also nichts, worin eine Maus entschwinden könnte oder in das ein Golfball hinein soll. Nein - ein gelernter Physiker versteht unter einem Loch etwas anderes. Bonitz:

"Ein Loch entsteht im Festkörper, wenn man den Elektronen im Festkörper Energie zuführt. Dann können die auf ein höheres Energieniveau klettern, und im Ausgangsniveau bleibt eine Vakanz, ein Loch zurück."

Ein Beispiel für diesen Prozess ist eine Solarzelle. Und zwar gibt Sonnenlicht, das auf die Solarzelle scheint, seine Energie an die Elektronen in der Zelle ab. Derart energetisch angestachelt hüpfen die Elektronen auf ein höheres Energieniveau - und hinterlassen zwangsläufig eine Lücke, ein Loch. Das Entscheidende: Die Elektronen sind elektrisch negativ geladen, und als Ausgleich dafür, damit die Buchhaltung stimmt, müssen die zurückgelassenen Löcher positiv geladen sein. In der Solarzelle fließen die Elektronen in die eine Richtung, die Löcher in die andere. Als Ergebnis fließt ein elektrischer Strom, den man abgreifen und nutzen kann. Gewöhnlich nun stellt sich Physiker wie Michael Bonitz die fließenden Elektronen und Löcher so vor, als wären sie flüssig:

"Normalerweise sind die Elektronen wie eine Flüssigkeit, ausgedehnt über den gesamten Festkörper, und genauso die Löcher. Das ist der Normalzustand. Und was wir gefunden haben ist, dass unter bestimmten Bedingungen die Löcher sich nicht mehr wie eine Flüssigkeit verhalten, sondern die können auf einmal selbst ein Kristallgitter bilden."

Mit anderen Worten: Mitten im See der Elektronen haben sich die Löcher zu einem regelmäßigen Kristall zusammengetan. Als Beweis zeigt Bonitz ein Bild, auf dem sich 16 rote Punkte zu einem Schachbrettmuster geordnet haben. Allerdings klappt das Spielchen nur unter bestimmten Bedingungen - etwa mit exotischen Materialien, die zum Beispiel Selen und Tellur enthalten, und bei frostigen Temperaturen um minus 260 Grad Celsius. Und die Sache hat noch einen weiteren Haken: Bislang haben Bonitz und seine Leute den Lochkristall nur im Computer entdeckt. Bonitz:

"Experimentell ist es noch nicht gefunden worden. Wir sind relativ optimistisch, dass das bereits mit den existierenden Materialien möglich ist. Man hat bloß eben nicht danach gesucht."

Seine Computerexperimente, sagt Bonitz, geben den Experimentatoren Hinweise, wo sie nach den Lochkristallen suchen sollen. Und sollte man sie eines Tages finden, hätte man vielleicht Kandidaten für neue supraleitende Werkstoffe in der Hand. Das sind Materialien, die Strom verlustfrei leiten und interessante Anwendungen versprechen. Und womöglich gibt es so etwas Ähnliches wie Lochkristalle sogar in der Natur - wenn auch weit von der Erde entfernt. Bonitz:

"In exotischen Sternen wie weißen Zwergen oder Neutronensternen. Viele dieser Eigenschaften sind sehr ähnlich zu den Lochkristallen, die wir hier im Experiment erwarten. Diese astrophysikalischen Objekte sind in keiner Weise zugänglich. Sie sind zu weit weg und unter derart extremen Bedingungen, dass man dort keine direkten Messungen wird durchführen können. Und wir denken, dass die Eigenschaften des Lochkristalls sehr ähnlich sind und dass man daran eine ganze Menge auch über die Sterne lernen kann."


 
 
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