Forschungsbericht 1995 -1997

Elektronische Struktur von Festkörpern
Die Struktur der festen Körper, so wie sie sich dem unbewaffneten Auge darbietet oder in den Materialeigenschaften der täglichen Erfahrungswelt niederschlägt, ist fast ausschließlich durch die Bindungsverhältnisse der Elektronen im atomaren Bereich festgelegt. Daher kommt der Untersuchung der elektronischen Struktur eine hervorragende Bedeutung in der Festkörperphysik zu. Schließlich war und ist sie auch die Grundlage, die die technische Entwicklung auf elektronische Bauelemente immer kleinerer Größenskala führt und die - obwohl kaum wahrgenommen - in keiner Weise mehr aus dem heutigen Leben wegzudenken ist. Mit der gegenwärtig vorhandenen Leistungsfähigkeit der Superrechner ist man in der Lage, Festkörperstrukturen aus ersten Prinzipien, d.h. ohne Rückgriff auf Messungen, zu bestimmen. Man erreicht dabei hohe Übereinstimmung mit experimentellen Daten. Es verbleibt dem Experiment jedoch eine entscheidende Aussagekraft, da sich mit zunehmender Feinheit der Methoden immer weitere Details offenbaren, die in den theoretischen Untersuchungen zunächst mit Recht vernachlässigt worden waren. Andererseits benötigt ein tiefes Verständnis gerade dieser genauesten Messungen eingehende theoretische Unterstützung. In dieser Kombination hat die Vorhersagbarkeit von Eigenschaften neuer maßgeschneiderter Materialien einen hohen Standard erreicht und beeinflußt damit die Entwicklung bereits in deutlicher Weise. Unsere Arbeiten betreffen alle diese zentralen quantenmechanischen Fragen zur elektronischen Struktur konkreter Materialien und zum Verständnis der zugehörigen Experimente.

Grundlagen
Als ein wichtiges Ziel und als Grundlage für weiterreichende Arbeiten wird die elektronische Struktur der untersuchten Substanzen berechnet. Den wichtigsten Zugang bildet die sogenannte Bandstruktur, in der die möglichen Energien der Elektronen geordnet werden. Je nach Bedarf stehen dafür unterschiedliche Verfahren zur Verfügung, von allgemeinen und hochgenauen Programmen1, die einen hohen Aufwand erfordern, bis zu speziell angepaßten schnellen Lösungen2-5. Diese Techniken und Programme werden beständig weiterentwickelt, um neue Aufgaben zu erfüllen, die durch die Anwendung auf neue komplexe Substanzklassen, auf Oberflächen oder auch durch den Bedarf an höchster Genauigkeit entstehen Ein weiteres Beispiel ist die Berechnung angeregter elektronischer Zustände mit besonderen Randbedingungen6-9. Dazu mußten leistungsfähigste Verfahren kombiniert und weiterentwickelt werden, um eine praktikable Lösung zu liefern. Zu solchen Aufgaben fürt auch die Frage nach der Reaktion eines Kristalls auf elektromagnetische Felder. In der klassischen makroskopischen Welt ist das als Induktion gut bekannt, die Erweiterung auf den mikroskopischen quantenmechanischen Tensor der dielektrischen Funktion erfordert dagegen sehr aufwendige Rechnungen10-13. All solche eher unüblichen Anstrengungen sind aber gerade wichtig für einen erfolgreichen Vergleich mit experimentellen Ergebnissen 14,15.

Verständnis
Die experimentelle Bestimmung der elektronischen Struktur gelingt mit der Photoemissionsspektroskopie. Dabei regt einfallendes Licht im Kristall Elektronen an, die dann austreten und gemessen werden können. Unter kontrollierten Versuchsbedingungen kann dann von diesem Photostrom auf den Anfangszustand der Elektronen geschlossen werden. Eine solche Auswertung ist anspruchsvoll. Höchstgenaue experimentelle Aussagen sind im Moment nur aus dem Vergleich der gemessenen Spektren mit den Rechnungen möglich. Die genauesten Rechnungen erlaubt derzeit die Theorie des Einstufenmodells 16, das wegen des hohen Aufwandes nur wenige andere Gruppen auf der Welt anwenden. Zum tieferen Verständnis der Spektren existieren in der Theorie weitere Hilfsmittel zur Beschreibung bestimmter Aspekte der elektronischen Struktur und der Prozesse der Anregung und der Elektronenemission. Mitunter ist es nur damit möglich, die Photoemissionspektren zu verstehen und mit der zugrunde liegenden elektronischen Struktur zu verbinden. Dieses theoretische Handwerkszeug erweist sich gerade bei der Anwendung der Photoemission auf große Rekonstruktionen von Oberflächen, auf bedeckte Oberflächen und auf komplett neue Materialien als sehr fruchtbar und derzeit konkurrenzlos leistungsfähig17.

Vollständige Information
Anstatt wie bislang üblich Photoströme in nur einzelne wenige Raumrichtungen zu messen, werden in jüngster Zeit teilweise auch alle Richtungen simultan berücksichtigt, was durch die Entwicklung neuer Elektronendetektoren begünstigt wurde. Der in diesen Intensitätsverteilungen auftretende Reichtum an Informationen, der sich in der Energie- und der Winkelabhängigkeit verbirgt, ist noch nicht vollständig und systematisch erschlossen. In den ersten Berechnungen solcher vollen Winkelverteilungen überhaupt, siehe Abb. 1, wurde am Beispiel der Si(001)-Oberfläche der Einfluß der elektronischen Struktur und des einfallenden Lichtes diskutiert18. Die Möglichkeiten zur Bestimmung der Bandstruktur sind bei diesen vollen Winkelverteilungen mit der Hoffnung verbunden, eine leistungsfähige Methode zur direkten Abbildung der sogenannten Fermiflächen zu entwickeln. Diese Größe ist wichtig für das Verständnis vieler elektronischer Anregungen im Festkörper. Zugehörige Intensitätsverteilungen wurden für TiTe2 studiert, in Ergänzung zu den Untersuchungen der Vielteilcheneffekte in diesem System19. Die Leistungsfähigkeit der Winkelverteilung zur Bestimmung der elektronischen Struktur konnte am Beispiel von GaAs(110) demonstriert werden: kleine Änderungen in der Bindungsenergie erzeugen starke Variationen in dem Abbildungsmuster der Photoströme20,21. Umgekehrt kann diese Empfindlichkeit zur genauen Eichung der Energieskala verwandt werden. An dieser Substanz wurden auch weitere Informationen, die in den Winkelverteilungen enthalten sind, zugänglich gemacht. Das betrifft Fragen nach der räumlichen Herkunft und weiteren Eigenschaften der Elektronen21,22. Dieses Verständnis eröffnet neue Möglichkeiten für die Anwendung der Photoemission zur Untersuchung der elektronischen Struktur.

Abb. 1: Vergleich der elektronischen Struktur mit dem resultierenden Photostrom. Die sogenannte Zustandsdichte links ist hier die geeignete physikalische Größe zur Beschreibung der elektronischen Struktur. Der daraus entstehende Photostrom sieht deutlich anders aus. Dennoch gelingt es, aus den Photoströmen die Struktur links zu rekonstruieren und weitere Informationen zu extrahieren. Die Skizze in der Mitte veranschaulicht den physikalischen Prozeß: Licht trifft auf eine Materialprobe und regt Elektronen an, die den Kristall verlassen und gemessen werden können.

Wechselwirkungen
Ein weiterer Schwerpunkt der Untersuchungen liegt in der Frage, wie bei der heutzutage erreichten Genauigkeit die i.a. vernachlässigte, allenfalls äußerst grob berücksichtigte Wechselwirkung der Elektronen untereinander zu behandeln ist. Dieses Problem ist z.B. zentral für den Magnetismus, die konventionellen sowie neuen Spielarten der Supraleitung und ist in dem letztgenannten Beispiel noch weit von einer quantitativen Lösung entfernt. So agieren die Elektronen in kollektiver Weise und schirmen z.B. an Oberflächen die elektromagnetischen Felder der Lichtwellen und selbst das Coulombfeld der bei der Photoemission austretenden Elektronen auf komplizierte Art ab. Will man die richtigen, d.h. gemessenen, Intensitäten des Photostroms berechnen und damit auch verstehen können, so müssen diese Effekte berücksichtigt werden16. Im Fachjargon der Vielteilchenphysik heißt das die Mitnahme von Selbstenergie- und Vertexkorrekturen. Tatsächlich sind die dadurch verursachten Änderungen in einem Photoemissionsspektrum von der Größenordnung eines halben Elektronenvolts, s. Abb. 2, und damit für diesen Bereich der Physik gravierend14,19,23,24. Die Diskussion solcher Effekte kann jetzt erst beginnen, da bislang diese Rechnungen einmalig sind.

Abb. 2: Vergleich der gemessenen und berechneten Photoströme für TiTe2 (aus: Ref. 19). Unter der Messung sind die Rechnungen mit und ohne Wechselwirkungskorrekturen dargestellt. Ein Maximum wird durch diese Einflüsse um 400 meV verschoben. Zum Vergleich: gute Experimente haben Auflösungen von 10 meV.

Quanten Monte-Carlo
Die elektronische Struktur wird gewöhnlich im sogenannten Einteilchenbild betrachtet, d.h. die berechneten Eigenschaften sind die eines einzelnen Elektrons in der Umgebung aller anderen gleichartigen Elektronen. Wie schon erwähnt, kommen dann bei Bedarf komplizierte Vielteilchenkorrekturen dazu. Da das nicht immer ausreicht, gibt es seit kurzer Zeit auch für die Quantenmechanik von Festkörperelektronen echte Vielteilchenrechnungen. Wegen ihres statistischen Zugangs heißen diese Methoden "Quanten Monte-Carlo-Verfahren". Am Beispiel von GaAs konnten damit sehr genau neben dem elektronischen Grundzustand und der Gitterkonstanten erstmals auch Ladungsverteilungen und Bindungsvorgänge betrachtet werden25-27. Solche Rechnungen sind derzeit noch äußerst selten, werden aber in Zukunft nach verbreiteter Ansicht eine große Bedeutung haben, wenn nicht sogar die Entwicklung dominieren.

Gruppe
Prof. Dr. W. Schattke; Dr. E.E. Krasovskii (Kiew) als häufiger Gast; R. Bahnsen, Dr. A. Bödicker, S. Brodersen, Dipl.-Phys. J. Dittmer, Dr. H. Eckstein, Dipl.-Phys. N. Fitzer, Dr. R. Kaltefleiter, Dipl.-Phys. A. Leventi-Peetz, Dipl.-Phys. S. Lorenz, Dr. D. Lukas, Dipl.-Phys. J.-V. Peetz, Dipl.-Phys. K.-W. Pieper, Dipl.-Phys. C. Ramírez, M.Sc. E. Rodríguez, Dipl.-Phys. M. Schilling, Dipl.-Phys. C.-H. Solterbeck, Dipl.-Phys. F. Starrost, Dipl.-Phys. T. Strasser, O. Tiedje; kontinuierliche Absprache und Abgleich der Arbeiten mit der experimentellen Arbeitsgruppe von Prof. Dr. M. Skibowski vor Ort und weitere Zusammenarbeit mit den Gruppen von H. Daimon (Osaka), C.S. Fadley (Berkeley und Davis), W. Hackbusch (Kiel), F. Liebau (Kiel), R. Redmer (Rostock), U. Simon (Essen), K. Terakura (Tsukuba) und M.A. Van Hove (Berkeley).

Bibliographie

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1.11.1997